Arbeitskrank

Flexible Arbeitszeiten, Home-Office, selbstbestimmtes Arbeiten: Die Begriffe der modernen Arbeitswelt klingen zuerst einmal komfortabel und verlockend. Doch Statistiken zeigen zeitgleich, dass immer mehr Menschen aufgrund von psychischen Erkrankungen frühzeitig in Rente gehen. Waren psychische Störungen 1993 noch in 15,3 Prozent aller Fälle Ursache für eine Frühverrentung, sind es heute schon 42,8 Prozent.

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von datawrapper.dwcdn.net zu laden.

Inhalt laden

Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung wurden im Jahr 1993 41.409 Personen aufgrund von psychischen Erkrankungen frühverrentet. Im Jahr 2016 waren es dagegen schon 74.468 Personen. Für Andreas Weber vom Medizinischen Dienst des Berufsförderungswerks Dortmund sind die Gründe für den Anstieg vielseitig: die Sensibilisierung für psychische Erkrankungen, aber auch die „Medikalisierung von Problemen“, wie er sagt. „Wer heute nicht mehr kann und wo man nicht weiß, was die Ursache ist, der wird krankgeschrieben“. Ob also wirklich mehr Menschen psychisch krank sind als früher oder ob nur mehr psychisch Kranke erfasst werden, ist unklar.

Die Veränderungen in der Arbeitswelt können eine Herausforderung sein 

„Nicht jeder kommt mit der Veränderung der Arbeitswelt klar.“ Konflikte und arbeitsbezogene Ängste seien ein ernstzunehmendes Thema, sagt Weber. Betrachtet man die im Rahmen des Mikrozensus 2013 erfasste Zusatzerhebung „Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Gesundheitsprobleme“, spielen seelische Belastungen aufgrund von Konflikten wie Mobbing am Arbeitsplatz allerdings nur eine geringe Rolle. Nur 1,5 Prozent der Befragten sehen ihre seelische Gesundheit durch Mobbing, Gewaltandrohungen oder Belästigungen am Arbeitsplatz beeinträchtigt.

Seelische Belastung ist abhängig vom Berufsfeld

Für eine wissenschaftlich fundierte Aussage, inwiefern bestimmte Arbeitsmerkmale unsere psychische Gesundheit tatsächlich beeinflussen, fehlten bislang noch Längsschnittstudien, sagt Soziologin Martina Michaelis von der Freiburger Forschungsstelle für Arbeits- und Sozialmedizin. Aber die Vielfalt mittlerweile existierender Querschnittsstudien gebe Hinweise auf einen möglichen Zusammenhang. Die Zusatzerhebung zum Mikrozensus zeigt: Die Wahrnehmung psychisch belastender Faktoren schwankt je nach Berufsfeld. Schichtarbeit, geringe Bezahlung und hohe Verantwortung seien Faktoren, die psychische Erkrankungen begünstigen, so Weber.

Sind Sie bei Ihrer Arbeit Belastungen ausgesetzt, die Ihr seelisches Wohlbefinden beeinträchtigen könnten?

Besonders hoch ist das Gefühl seelischer Belastung in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung. „Das hat viel mit Arbeitsverdichtung zu tun“, sagt Michaelis, „es muss mehr Arbeit in weniger Zeit erledigt werden. In der Pflege beobachten wir beispielsweise einen gravierenden Personalnotstand.“ Die Zahlen zu psychischen Erkrankungen, Frührente und psychischer Belastung im Beruf sind daher auch immer politische Zahlen, die unterschiedlich interpretiert werden können, sagt Weber.

 

Hinter der Geschichte:

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre unsere neue Arbeitswelt möglicherweise die Ursache für mehr psychische Erkrankungen. Aber genauso scheint das Gegenteil möglich: Der Anteil von Menschen, die Antidepressiva einnehmen, ist laut einer Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde unter Arbeitslosen etwa zehn Prozent höher als unter Erwerbstätigen. Arbeit hält demnach gesund. Oder? Letztlich zeigen die Daten vor allem eines: Sie können nicht zweifelsfrei klären, warum welche Faktoren psychische Erkrankungen auslösen und zur frühen Verrentung führen. „Das wird, auch akademisch, emotional diskutiert“, sagt Weber.