Ziel Zuhause

Integration in Dortmunds Nordstadt

Gestatten: Nordstadt

Dortmund Innenstadt-Nord, Heimat von Menschen aus 138 Nationen, Wiege des BVB, ein Arbeiterviertel geprägt von Altbauten und Arbeitslosen, es riecht nach Shisha und Gyros. Ziel von Zuwanderern aus aller Welt, auf dem Weg in ein neues Leben. Gelebte Integration seit 1847.

55.000 Menschen verbringen hier ihren Alltag, sie spielen Fußball, rappen über ihre Erlebnisse, lernen Deutsch, träumen von einem festen Arbeitsvertrag und einer warmen Wohnung, kurz: Sie leben in ihrem Zuhause, der Dortmunder Nordstadt. Integration, was bedeutet das? Sehen Sie selbst.

Typische Altbauten in der Lessingstraße.

Afghanische Flüchtlinge vor dem Dietrich-Keuning-Haus.

Ein 'Problemhaus' in der Kielstraße.

Ziel: Mieter

Eine Matratze für 200 Euro

September 2015: Täglich kommen mehrere hundert Flüchtlinge am Rande der Dortmunder Nordstadt an. Sie bleiben nicht lang, werden nach zwei bis drei Stunden auf Flüchtlingsunterkünfte in der Umgebung verteilt. Vor der aktuellen Flüchtlingswelle sind vor allem Zuwanderer aus anderen EU-Ländern gekommen, überwiegend aus Polen, Rumänien und Bulgarien.

Die Zuwanderer-Nationen mit dem größten Zuwachs

Quelle: Statistik Dortmund

Seit Gründung der Nordstadt Mitte des 19. Jahrhunderts sind kontinuierlich über die Jahre hinweg viele Zuwanderer aus Polen gekommen. Besonders stark stieg ihre Zahl im Jahr 2004, nach dem EU-Beitritt des Landes. Laut einer Studie der Bundeszentrale für politische Bildung, haben polnische Zuwanderer gute Chancen, sich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren. Oft finden sie eine Anstellung bei bereits etablierten polnischen Unternehmen.

Seit 2007 ist die Zahl der rumänischen und bulgarischen Zuwanderer stark angestiegen. Allein im Jahr 2014 kamen rund 7.000. Meist sind es Roma. Sie haben es besonders schwer, sich zu integrieren. Viele von ihnen haben keine Ausbildung und müssen eine mehrköpfige Familie ernähren - schlechte Voraussetzungen, um eine Wohnung zu finden. Selbst wenn sie ein festes Einkommen haben, werden sie von vielen Vermietern abgewiesen. Roma haben einen schlechten Ruf. Oft sind sie gezwungen, eine Matratze pro Person in einem Zimmer zu mieten - statt eine Wohnung für die ganze Familie. Der Mietpreis für eine Matratze liegt in der Nordstadt zwischen 200 und 300 Euro im Monat. Das entspricht einem Preis von 111 bis 166 Euro pro Quadratmeter, während der Durchschnitt für die Nordstadt bei 7,42 Euro liegt. Die Maklerin Marita Hetmeier kennt solche Praktiken, denn sie wohnt direkt neben einem solchen „Problemhaus“.

Die Sozialarbeiterin Tülin Kabis-Staubach betreut für den Wohlfahrtsverein „Planerladen“ viele Roma-Familien, die nach Wohnungen suchen. Sie schätzt, dass etwa 2.000 Roma in Problemhäusern wohnen. Von ungefähr 150 Problemhäusern in ganz Dortmund stehen 110 in der Nordstadt.

Gleichzeitig stehen einige heruntergekommene Häuser in der Nordstadt leer. Tülin Kabis-Staubach schlägt vor, diese Häuser von Einwanderern ohne Bleibe renovieren zu lassen. Viele von ihnen seien handwerklich ausgebildet. Außerdem würden sie mehr Verantwortungsgefühl für ein Haus entwickeln, wenn sie es selbst renovierten.

Ahmad, 14, rappt seit drei Jahren.

Rap und Graffiti - zwei Elemente des Hiphops.

Ahmad und andere Rapper bei einem Hiphop-Workshop.

Ziel Rap-Star

Der Sound der Nordstadt

Hazar
PLAY69
Intelli-Genc

Knast, Koks, Kampfgeist: So lauten Schlüsselwörter in den Texten der Rapper aus der Dortmunder Nordstadt. Die Tracks von Play69, Genc und Hazar zeigen: Hier aufwachsen härtet ab. Jeder Dritte lebt von Hartz IV und eine Bewerbung mit Nordstädter Postleitzahl landet oft im Papierkorb. Dann wird das Tonstudio zum Zufluchtsort: „Deutschland hat keine Ghettos, hat ne Forschung ergeben? In Ordnung, okay, doch ich hab Dortmund erlebt“, rappt zum Beispiel Play69. Mit mehr als 200.000 Youtube Klicks für seinen bekanntesten Song ist der 21-Jährige zum Vorbild für Jüngere aus dem Viertel geworden.

Die Nachwuchsrapper treffen sich im Tonstudio des Jugendzentrums “Konkret“. Dort hilft ihnen ein erfahrener Rapper drei Mal pro Woche, ihre ersten Tracks aufzunehmen; Sozialarbeit finanziert von der Stadt Dortmund.

Ein anderes Beispiel für Jugendarbeit mit Beat: Der Workshop „Essen rappt mit“. Vier Monate lang proben rund 15 Jugendliche ihre Raps und Songs mit mehreren Trainern. Das Ziel: Ein Auftritt als Vorband eines bekannten Künstlers. Auch vier Jugendliche aus der Nordstadt sind dabei – unter ihnen der 14-jährige Ahmad. Seine Eltern kommen aus den autonomen Kurdengebieten im Irak. Musik ist für Ahmad mehr als ein Hobby – er will Rap-Star werden.

Ob Ahmad später einmal wirklich von seiner Musik leben kann, ist nicht klar. Klar ist nur, dass auch er in seinen Texten zeigen will, wie sich das Leben im Brennpunkt anfühlt: „Viele Jungs tragen ein Messer, machen Probleme und werden danach Verbrecher“, reimt er.

„Rap ist das CNN für Schwarze“, sagt der legendäre amerikanische Rapper Chuck D. Junge Schwarze aus der Bronx in den 1980ern und junge Migranten in der Dortmunder Nordstadt im Jahr 2015: Für sie war und ist Rap wie ein Megafon. Mit nur einem Klick auf Youtube kann sie die ganze Welt hören.

Die Nordmarkt-Grundschule liegt im Herzen der Nordstadt. Hier treffen Kinder aus aller Welt aufeinander: 96 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund.

Die "Nordmarkt-Pinguine": In dieser Spiel- und Lerngruppe wird Deutsch gelernt. Die meist fünfjährigen Kinder sind gerade erst in Deutschland angekommen.

Ziel: Musterschüler

Unterricht mit Händen und Füßen

Eines haben die 15 Kinder in der Spiel- und Lernstube alle gemeinsam: Sie sprechen kaum oder gar kein Deutsch. Drei Betreuer vermitteln die Sprache deshalb mit vollem Körpereinsatz. Das Ziel: Die Kinder so früh wie möglich auf die Grundschule vorbereiten. In der Nordstadt ist das besonders schwierig.

„Unsere Schule liegt in der kinderreichsten Gegend im kinderfeindlichsten Viertel.“
- Alma Tamborini, Schulleiterin

Yasmina hat bei den „Pinguinen“ schnell Deutsch gelernt: Das siebenjährige Mädchen aus Marokko kam vor eineinhalb Jahren nach Deutschland und wurde sofort in die Gruppe aufgenommen. Schon ein halbes Jahr später war sie sprachlich fit genug, um in die erste Klasse aufgenommen zu werden.

26 Nationen - Eine Schule

Fahren Sie über die Schüler, um zu sehen, wie stark die jeweilige Nation vertreten ist.

Elena Gieswein kann die Situation ihrer Schüler gut nachvollziehen. Denn ursprünglich kommt die 31-Jährige aus der ehemaligen Sowjetunion. Im Alter von acht Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. In einer Auffangklasse lernte sie Deutsch. Heute - 23 Jahre später - ist sie Lehrerin und unterrichtet selbst eine Auffangklasse.

Der Nordmarkt in Dortmund – zentraler Treffpunkt der Nordstadt.

Direkt daneben ist der “Arbeiterstrich“. An der Mallinckrodtstraße bieten junge Männer ihre Arbeitskraft an.

Sie warten auf Arbeit. 40 Euro auf die Hand für 12 Stunden Arbeit – mehr Lohn gibt es meist nicht.

Ziel: Fachkraft

Job gesucht - trotz Migrationshintergrund

Arbeiterstrich, Arbeitslosigkeit, Kriminalität – die Dortmunder Nordstadt bietet wenige Zukunftsperspektiven. Hier hat jeder Vierte keinen Job und die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie in keinem anderen Stadtteil.

Die Nordstadt hat die meisten Arbeitslosen

Quelle: Statistik Dortmund

36.000 Migranten leben in der Nordstadt. Viele sind jung, hier geboren und zur Schule gegangen. Doch wer Ahmet, Hakan und Gülcin heißt, hat es schwer auf dem Arbeitsmarkt. 2014 Jahr fand nur einer von acht Jugendlichen mit ausländischen Wurzeln eine Ausbildung, so die Stadt Dortmund.

Kati Mehmen Yasin, 20

Wartet seit zwei Jahren auf eine Ausbildung.

Sabrine Beji, 19

Hat es als eine der Wenigen geschafft.

Hubeyb Garan, 20

Fand erst nach 80 Bewerbungen einen Job.

Dabei brauchen Dortmunder Unternehmen dringend Fachkräfte. Jede vierte Ausbildungsstelle ist derzeit unbesetzt. Immer noch gibt es viele Vorurteile – etwa, dass die Jugendlichen unmotiviert und kriminell seien. Seit zehn Jahren unterstützt Aysun Tekin vom Verein “Unternehmen.Bilden.Vielfalt.“ in der Nordstadt Jugendliche mit ausländischen Wurzeln bei der Jobsuche.

„Oft reicht schon eine Postleitzahl aus der Nordstadt aus, um die Unternehmen abzuschrecken. Dabei bringen die Jugendlichen großes Potenzial mit. Die Unternehmen sollten sich mehr öffnen. Wir jammern über den Fachkräftemangel, aber wenn es darauf ankommt, kriegen diese Jugendlichen keine Chance auf dem Ausbildungsmarkt.“
- Aysun Tekin, Sozialarbeiterin, Verein “Unternehmen.Bilden.Vielfalt“

Seit September 2015 scheint sich etwas zu bewegen. Der starke Zustrom von Flüchtlingen wird zunehmend als Chance für die deutsche Wirtschaft angesehen. Verbände und Initiativen versuchen, Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu vermitteln. IHK, Arbeitsagentur, Handwerkskammer – alle großen Träger haben seit 2014 eigene Programme. Ein wichtiger Schritt, findet Tekin. Sie fordert aber, dass es diese Unterstützung auch für junge Migranten geben muss, die schon seit Jahren hier leben.

Der 31-jährige Tesfa Abraha floh 2013 vor dem diktatorischen Regime in Eritrea nach Deutschland. Er ist einer von 14 Flüchtlingen, den die Handwerkskammer Dortmund erfolgreich in den Arbeitsmarkt vermittelt hat. Abraha macht nun eine Ausbildung zum Parkettverleger. Doch bundesweit betrachtet, sind solche Glücksfälle bei der Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt eher selten. Das zeigen erste Ergebnisse des Vermittlungsprojekts "Early Interventions“, aufgelegt von der Arbeitsagentur seit Anfang 2014. Bis September 2014 kamen zwar mehrere Tausend Flüchtlinge nach Deutschland, es wurden aber nur 59 in eine Ausbildung oder eine Anstellung vermittelt.

Fehlende Deutschkenntnisse, nicht anerkannte Zeugnisse und ein ungeklärter Asylstatus - nach wie vor sind die Einstiegshürden für Flüchtlinge hoch. Nur wenn diese Hürden kleiner werden, könnten Flüchtlinge den Fachkräftemangel in Deutschland abmildern, sagt Arbeitsmarktforscher Wido Geis vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln. Denn rund jeder dritte Flüchtlinge ist zwischen 16 und 17 Jahre alt und damit im besten Alter, um zur Fachkraft ausgebildet zu werden.

Ziel: Teamplayer

Der Ball ist bunt

Wenn der Ball rollt, spielen Herkunft, Bildung oder Religion keine Rolle mehr: Die 16-jährige Hajar Taie aus Marokko kickt beim SC Asteria, obwohl ihre Eltern erst dagegen waren. Denn muslimische Frauen und Fußball – das passte für sie nicht zusammen. Andere muslimische Spielerinnen hatten ähnliche Probleme mit ihren Familien, mussten sogar das Team verlassen. Hajar aber hat erreicht, dass ihre Eltern sie nun sogar unterstützen. Sie ist eine von insgesamt 150.000 Dortmundern, die Mitglied in Sportvereinen sind.
Besonders in der Nordstadt, wo jeder Zweite einen Migrationshintergrund hat, sind die Mannschaften international aufgestellt. So spielt auch Hajar Seite an Seite mit Mädchen aus Kolumbien, Ghana und Albanien.
Der Landessportbund unterstützt die Integrationsarbeit in Vereinen: Mit 200.000 Euro fördert er Projekte für Flüchtlinge in NRW – 14 davon in Dortmund.

„Gerade traumatisierte Flüchtlinge können beim Sport auch mal vergessen, abschalten und verdrängen.“
– Raffael Diers, “StadtSportBund Dortmund e.V.“

Bunt kickt gut

Viele Migranten und Flüchtlinge finden ihre Mannschaft hier – bei “Bunt kickt gut“, der zweitgrößten Straßenfußballliga Deutschlands. Wer hier mitspielen möchte, muss keinen Vereinsbeitrag zahlen und braucht auch kein Trikot. Jeder der Lust hat, darf einfach vorbeikommen. Mittlerweile kicken rund 500 Jungen und Mädchen wöchentlich beim Jugendtreff “Konkret“.

Apfel! Banane! Zitrone!

Der BV Westfalia Wickede geht sogar noch einen Schritt weiter: Die Vereinsmitglieder bringen rund 30 Flüchtlingen während des Trainings Deutsch bei. Dafür haben sich die ehrenamtlichen Helfer ein besonderes System ausgedacht, wie die Flüchtlinge Vokabeln büffeln und gleichzeitig ihre Kondition trainieren:

Ziel: Bleiben

"Die Leute leben hier"

Kann man ein Viertel mögen, in dem Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Drogenprobleme zum Alltag gehören? Wir haben die Bewohner befragt - und überraschende Antworten erhalten.